Palästinenser müssen Rafah verlassen
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Teilräumung von Rafah: "Wissen nicht, wohin wir gehen sollen"

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Teilräumung von Rafah: "Wissen nicht, wohin wir gehen sollen"

Nach den erneut gescheiterten Verhandlungen über die Freilassung der israelischen Geiseln leitet Israels Armee die Räumung der östlichen Stadtgebiete von Rafah ein. Die lang angekündigte – und viel kritisierte – Militäroffensive steht bevor.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Über 100.000 Palästinenser in den östlichen Stadtgebieten von Rafah sind am Morgen von der israelischen Armee aufgefordert worden, ihre Unterkünfte zu räumen und in sogenannte Schutzzonen zu fliehen.

"Wir wissen nicht, wohin wir gehen sollen"

Sobald die Warnung der israelischen Streitkräfte um 9 Uhr Ortszeit eintraf, machten sich unzählige Menschen in der Flüchtlingsstadt Rafah auf den Weg: "Ich habe meine Wohnung verlassen, ohne etwas mitzunehmen", zitiert die Nachrichtenagentur Reuters einen Anwohner der Stadt, Rahmad Naser. Das israelische Militär rufe "die Menschen im östlichen Gebiet von Rafah auf, einige auch im Westen in der Nähe des Grenzübergangs Rafah, das Gebiet zu verlassen", schildert ein weiterer Anwohner, der im Norden von Rafah wohnt. "Wir wissen nicht, was wir tun sollen, aber ich werde meine Familie nach Deir al-Balah bringen, obwohl ich nicht im Zielgebiet bin, vielleicht noch nicht." In der Nacht habe es stark geregnet, sagt ein Familienvater, dessen Namen die Nachrichtenagentur mit Abu Raed angibt. "Wir wissen nicht, wohin wir gehen sollen." Er habe immer Sorge gehabt, "dass dieser Tag kommen könnte. Ich muss jetzt sehen, wohin ich meine Familie bringen kann."

Räumungsorder der israelischen Armee

Auf Flugblättern, per SMS und im Netz hatte die israelische Armee am Morgen die Einwohner in den östlichen Stadtteilen von Rafah aufgefordert, ihre Unterkünfte zu verlassen und sich entweder in die Großstadt Khan Yunis zu begeben oder den Küstenabschnitt von Al Mawasi. "Heute Morgen haben wir gemäß den von der Regierung genehmigten Einsatzplänen mit einer begrenzten Operation zur vorübergehenden Evakuierung der Bewohner im östlichen Teil von Rafah begonnen", erklärte der arabischsprachige Armee-Sprecher Nadav Shoshani. Es handele sich nicht um eine großflächige Evakuierung von Rafah, "sondern um eine begrenzte Operation im östlichen Teil von Rafah, wie Sie auf den Karten sehen können, die wir veröffentlicht haben."

Die Karte zeigt den südlichen Teil des Gaza-Streifens. Mit rot sind die Stadtteile Rafahs markiert, die die Anwohner unmittelbar zu verlassen hätten. Mit einem großen gelben Pfeil, der nach Khan Junis zeigt, wird auf die mögliche Fluchtroute verwiesen. Auf den gelb markierten Gebieten werden erweiterte "humanitäre Areale" ausgewiesen, die sich von Khan Junis über die bisherige "humanitäre Zone" am Strandgebiet von Al Mawasi bis nach Deir al Balah erstrecken. In einer weiteren Erklärung der Armee hieß es, man habe "den humanitären Bereich in Al Mawasi erweitert, um den verstärkten Zustrom von Hilfsgütern nach Gaza zu bewältigen." Dieser erweiterte humanitäre Bereich umfasse "Feldlazarette, Zelte und größere Mengen an Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten und zusätzlichen Hilfsgütern."

Warnungen vor weiterer humanitärer Katastrophe

Bereits im Vorfeld des jetzt angekündigten Räumungsbefehls der israelischen Streitkräfte hatten die Vereinten Nationen, internationale Hilfsorganisationen und zahlreiche Verbündete Israels, vor allem die US-Regierung, vor dem Folgen einer Militäroffensive in dem letzten verbliebenen Zufluchtsort Rafah gewarnt. Das UN-Flüchtlingshilfswerk für die Palästinenser, UNWRA, äußerte heute erneut seine Sorge: "Eine israelische Offensive in Rafah würde weiteres ziviles Leid und Tote bedeuten", schrieb die UNRWA auf X, vormals Twitter. Die Folgen wären für 1,4 Millionen Menschen "verheerend". Man wolle so lange wie möglich in Rafah bleiben.

"Es ist genau das, was wir befürchtet haben", so der Sprecher des UN-Kinderhilfswerks UNICEF, James Elder, der in den vergangenen Wochen mehrmals im Gaza-Streifen war. Es gebe jetzt Familien, die mehrfach vertrieben worden sein, die ein Trauma erlitten hätten, "das man sich nicht vorstellen kann", sagte Elder der britischen BBC. Khan Yunis als mögliche Evakuierungszone komme nicht infrage, "weil es in Trümmern liegt". Deshalb würden viele Zivilisten weiter nördlich unterkommen, "aber auch dort sieht es nicht viel besser aus", denn in den Straßen flössen Abwässer. In Rafah halten sich nach Schätzungen der Vereinten Nationen zwischen 1,2 bis 1,5 Millionen Menschen auf. Die ganz überwiegende Anzahl von ihnen sind Flüchtlinge und Vertriebene aus den übrigen Teilen des Gaza-Streifens.

Erneutes Scheitern der Geisel-Verhandlungen

Im Wesentlichen dürften es mehrere Faktoren sein, die zu einem weiteren Scheitern der indirekten Verhandlungen zwischen Israel und der islamistischen Hamas in Kairo geführt haben. Am Sonntagmorgen feuerten Einheiten des bewaffneten Arms der Hamas Raketen aus Rafah auf den wichtigsten Waren-Grenzübergang Kerem Shalom ab. Dabei wurden nach jüngsten Angaben der israelischen Armee vier Soldaten getötet und weitere Soldaten verletzt. Daraufhin schloss Israel den Waren-Grenzübergang, über den ein Großteil der Hilfslieferungen in den Gaza-Streifen abgewickelt wird.

Dieser Beschuss der Hamas habe dazu geführt, dass die Verhandlungen über eine Freilassung der Geiseln sowie über eine Waffenruhe in eine Sackgasse geraten seien, wie eine ägyptische Zeitung unter Berufung auf eine nicht näher genannte "hochrangige ägyptische Regierungsquelle" meldete. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hatte in den vergangenen Tagen und Wochen mehrfach betont, dass die Streitkräfte in jedem Fall ihre Militäroperation in Rafah durchführen würden. Dort würden sich die letzten vier verbliebenen Bataillone der Hamas befinden.

Bei den Verhandlungen in Kairo, die von den USA, Katar und Ägypten geführt werden, wären sich Israel und die Hamas mit Blick auf einen "Deal näher gekommen." Dies berichtet die "New York Times" unter Berufung auf eine israelische Regierungsquelle. Allerdings hätten Netanjahus Bemerkungen über Rafah dazu geführt, dass die Hamas ihre Forderungen ausgeweitet habe, vor allem die Forderung, wonach Israel nicht in Rafah einmarschiere. Netanjahu wiederum erklärte am Wochenende, ohne eine militärische Präsenz Israels im Gaza-Streifen würde die Hamas ihre Kontrolle über den Küstenstreifen wiedererlangen und ihre militärische Fähigkeiten zurückerlangen können.

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